Die Demokratiebewegung in Potsdam

Historischer Hintergrund

Dauerwirtschaftskrise, Reformstau und fehlende Demokratie lähmten die eingeschlossene DDR-Gesellschaft seit langem. Doch die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse, die unaufhaltbare Flucht- und Ausreisebewegung, die Zustimmung zur Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung und das ungebrochene Weiter-so der SED-Führung brachten im Laufe des Jahres 1989 das Fass zum Überlaufen.

 

Seit dem Frühherbst 1989 engagierten sich immer mehr Menschen in Bürgerbewegungen wie dem Neuen Forum und nahmen an regimekritischen Veranstaltungen in den Kirchen teil. Die Ziele der sich seit September von Leipzig aus ausbreitenden Demonstrationsbewegung waren einerseits vom Wunsch nach Ausreise bestimmt, andererseits vom politischen Echo darauf: „Wir bleiben hier“. Es verband sich mit der selbstbewussten Parole „Wir sind das Volk“, die sich gegen eine selbstherrlich agierende Führung richtete, die die Demonstrant*innen zunächst als Rowdys denunzierte. 

 

Den Startschuss für die Brandenburger Herbstproteste gab die Informationsveranstaltung der (noch illegalen) Bürgerbewegung Neues Forum in der Potsdamer Friedrichskirche am 4. Oktober. 3000 Mutige, und damit zehnmal mehr als die Organisator*innen erwartet hatten, waren trotz Polizeipräsenz gekommen – fünf Tage, bevor mit der gewaltlosen Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober die Friedlichkeit des weiteren Revolutionsverlaufs erkämpft wurde. 

 

Ebenso wie in anderen Städten entwickelte sich nun auch in Potsdam eine ausgeprägte Demonstrationskultur. Höhepunkt war die Großkundgebung der Oppositionsgruppen auf dem heutigen Luisenplatz am 4. November, an der sich ab 14.00 Uhr mehrere zehntausend Menschen beteiligten. Es war im Verhältnis zur Einwohnerzahl eine der größten Demonstrationen der friedlichen Revolution. Beendigung der SED-Vormachtstellung, Reisefreiheit, freie Wahlen, Rückzug von SED und Stasi aus den Betrieben, Abschaffung der Funktionärsprivilegien waren nur einige der Forderungen, die Redner*innen formulierten und die auf den zahllosen Transparenten zu lesen waren. 

 

Der anschließende Demonstrationszug bewegte sich vom Platz der Nationen über die Wilhelm-Külz-Straße (heute Breite Straße), den Platz der Einheit, die Heinrich-Rau-Allee (heute Am Kanal) und schließlich vorbei an der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in der Hegelallee und zurück zum Ausgangspunkt. Dabei blieben Provokationen der Staatsmacht nicht aus: So beobachtete ein Sportflugzeug den Protestmarsch, die Heinrich-Rau-Allee war trotz Zusicherung des Polizeichefs nicht abgesperrt, eine plötzlich auf die Massen zufahrende Straßenbahn mit Parteirentnern und Stasi-Mitarbeitern konnte nur mit Mühe von den Demonstrant*innen gestoppt werden. Doch diese ließen sich nicht provozieren, und so blieb alles friedlich.

Fünf Tage später wurde die Berliner Mauer geöffnet. Während bis dahin thematisch Dialog-, Mitbestimmungs- und Reformforderungen dominierten, dauerte es nun nicht mehr lange, bis der Fortbestand des SED-Regimes und der DDR grundsätzlich in Frage gestellt wurde. 

Peter Ulrich Weiß


Literaturhinweise

Sigrid Grabner/Hendrik Röder/Thomas Wernicke (Hg.), Widerstand in Potsdam 1945-1989, Potsdam/Berlin 1999

Das Buch versammelt verschiedene Zeitzeugenerinnerungen und Analysen über widerständiges Verhalten in Potsdam zwischen 1945 und 1989. Erschienen zehn Jahre nach Ende der DDR, erscheinen die meisten Schilderungen noch besonders lebendig und zeitgeprägt, zumal es sich bei vielen Autor*innen um ehemals aktive Bürgerrechtler*innen handelt.

www.politische-bildung-brandenburg.de/publikation/potsdam-1945-1989

 

Gisela Rüdiger/Gudrun Rogal, Die 111 Tage des Potsdamer Bürgerkomitees "Rat der Volkskontrolle" 1989/90,

Potsdam 2009

Zwei Zeitzeuginnen schildern die Geschehnisse von Dezember 1989 bis April 1990 und beleuchten dabei kenntnisreich die Besetzung der Potsdamer Stasizentrale sowie Arbeit und Wirken des Rates der Volkskontrolle als eine Art Runder Tisch der Bürger Potsdams. 

www.politische-bildung-brandenburg.de/system/files/publikation/pdf/111%20Tage%20Potsdamer%20B%C3%BCrgerkommitee_0.pdf

 

Bernd Blumrich, Linienuntreue. Potsdam, Kleinmachnow und Teltow von 1989 bis 1990, Lukas Verlag 2007.

Der Bildband von Bernd Blumrich trägt in die Umbruchzeit zwischen 1989 und 1990. Die Fotografien erzählen mit den eindrucksvollen Mitteln der Schwarz-Weiß-Fotografie von Verzweiflung und Mut, von Anarchie und Neuorientierung, von Euphorie und Ernüchterung.

www.lukasverlag.com/ebooks/titel/188-linienuntreue.html

 

Joachim Liebe, Wende. Wandel. Wiedersehen: 20 Jahre danach.

Mit einem Text von Thomas Brussig, Koehler & Amelang 2009.

Joachim Liebe hat 1989/90 die Beteiligten der sogenannten Wende in vielen Momentaufnahmen festgehalten. Zwanzig Jahre nach diesem demokratischen Ur-Erlebnis fragte er sich, was aus den damals Fotografierten geworden ist. Es gelang ihm, zehn seiner Protagonisten wiederzufinden, an denselben Orten wie damals erneut zu porträtieren und rückblickend von ihren persönlichen Eindrücken erzählen zu lassen.

www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Joachim-Brussig-Liebe+Wende-Wandel-Wiedersehen-20-Jahre-danach/id/A02lq4Gs01ZZg

 

Jutta Braun/Peter Ulrich Weiß (Hg.), Agonie und Aufbruch.

Das Ende der SED-Herrschaft und die Friedliche Revolution in Brandenburg, Potsdam 2014. 

Das Buch zeichnet anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse ein vielschichtiges Bild der friedlichen Revolution in Brandenburg. Der Sammelband setzt dabei zwei Schwerpunkte: Ein Teil der Autoren richtet den Blick primär auf die brüchigen Strukturen und zerfallenden Fassaden der SED-Diktatur in Wirtschaft und Gesellschaft. Eine zweite Gruppe widmet sich Phänomenen des Aufbruchs in der Umweltbewegung, in der Kunst und im Sport.

www.politische-bildung-brandenburg.de/publikation/agonie-und-aufbruch

 

Rainer Eckert, Revolution in Potsdam. Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/90), Leipzig 2017.

Rainer Eckert schildert in seinem Buch kenntnisreich und ausführlich die Entwicklung der oppositionellen Bürgerbewegung in Potsdam, deren Gruppen maßgeblich die Friedliche Revolution trugen - zusammen mit Kirchgemeinden, die den Basisgruppen Schutzräume boten. Dabei spannt er den Bogen von der Fälschung der Kommunalwahlergebnisse über die Niederschlagung der Proteste am 7. Oktober bis zur Massendemonstration am 4. November 1989.

www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p4263_Revolution-in-Potsdam-.html

 

Peter Ulrich Weiß/Jutta Braun, Im Riss zweier Epochen. Potsdam in den 1980er und frühen 1990er Jahren,

2. Aufl., Berlin 2019.

Das Buch von Jutta Braun und Peter Ulrich Weiß erklärt, wie Potsdam trotz seiner Bedeutung als »rote Bezirksstadt « und Ballungszentrum von Militärs, Kadereliten und SED-Funktionsträgern in den 1980er Jahren mehr und mehr zum politischen Unruheherd in der Region wurde. Verwurzelt in den zahlreichen städtischen Institutionen und Netzwerken von Kirche und Kulturbund, Wissenschaft und Kulturbetrieb, Film und Sport, Bohème und Jugendszene entstand hier eine rege Oppositionsszene und Protestbewegung, die die Stadt zum Epizentrum des politischen Umbruchs in Brandenburg machte. 

www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/734-im-riss-zweier-epochen.html(…)

 

Bernd Blumrich, Demokratie – Jetzt. Dokumente der Demokratiebewegung Potsdam 1989/1990.

Die Großkundgebung am 4. November 1989, Potsdam 2020.

Der im Zusammenhang mit einer Ausstellung entstandene Fotokatalog von Bernd Blumrich vereinigt seine Bilder von der Potsdamer Großdemonstration am 4. November 1989 mit Auszügen aus Redebeiträgen damaliger Bürgerrechtler. Ausgestattet mit QR-Codes, macht es die Publikation möglich, erstmals auch die Reden in der Tonwiedergabe zu hören. Damit ist ein sehr bewegendes Zeitdokument entstanden. 

www.potsdamer-buergerstiftung.com/projekte-blog/foto-ausstellung-demokratie-jetzt

Download
Aufbruch ins Ungewisse von P. U. Weiß
Artikel in potsdamlife, Ausgabe 58, Winter 2019
Aufbruch-ins-Ungewisse_P_U_WEISS.pdf
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Weiterführende Informationen & Links

Parallel zur Entstehung des Denkmals auf dem Luisenplatz erlebte das Theaterstück „Die Jury tagt“ von Julia Schoch Anfang Oktober 2020 im Potsdamer Hans Otto Theater seine Uraufführung. Im Stück treffen vier unterschiedliche Menschen aufeinander, um über Entwürfe zu einem Revolutionsdenkmal zu entscheiden und grundsätzliche Fragen zu klären: Gibt es eine „kollektive Erinnerung“ – und wenn ja, lässt sie sich verwalten? Wem gehört die Erinnerung und wem die Stadt, in der solch ein Denkmal stehen soll?

www.hansottotheater.de/spielplan/a-z/die-jury-tagt/